07. Dezember 2021
Eigentlich sind Menschen ganz knorke, aber sie machen komische Sachen:
schicken mit glänzenden Augen Himmelslaternen in die Nacht, die dann auf Affenhäuser fallen.
Demonstrieren gegen Unfreiheit und stärken aus versehen eine Partei, die Frauen gerne wieder in gestärkten Schürzen hinterm Herd sehen würde und sich einen Vogelschiss für menschliches Einzelschicksal interessiert.
Du, Mama, Ursprung eines Teils dieser Menschheit, sitzt zwischen zerwühlten Decken allein auf dem Sofa. Alle schlafen, du bist noch mal aufgestanden um eine Handvoll Flips und Zeit für dich ganz alleine zu haben. In den Nachrichten wird ein Haus gezeigt, in dem etwas Schreckliches passiert ist.
Die Kamera schwenkt über Polizeiautos, Bahren und Absperrbänder, ein Bild bleibt in dir kleben von einem großen Mann, der den Kopf in den Händen geborgen auf dem Boden kauert und schluchzt.
Was zu Trinken wäre ganz gut.
In der Küche findet sich Wein. Du trinkst gerne mal ein Glas, nicht oft, obwohl, in letzter Zeit, naja.
Aber wen sollte das wundern, mal ehrlich, machen doch alle gerade.
Der erste Schluck explodiert warm in dir.
Das Glas ist schnell leer. Schon besser, denkst du. Was geht dich ein verzweifelter Mann auf einem fremden Bürgersteig an. Und die mündigen Bürger und wen sie wählen, aus Irrtum errichtete Meinungskathedralen, das ganze Rumgehasse für ein paar Krümel Liebe.
Du schneidest dir noch ein Stück Käse runter und findest drei Programme weiter jemanden, der mit Zwirbelschnurrbart und Lupe nach einem Stempel unter einer Spieluhr sucht.
Du könntest jetzt langsam schlafen gehen, dich an einen warmen Rücken kuscheln, aber du entscheidest dich für ein weiteres Glas, obwohl es jetzt schon ein bisschen bitterer schmeckt. Warum auch nicht, nach so einem Tag. Danach denkst du verschwommen, dass man auf zwei Beinen nicht stehen kann und machst die Flasche leer, weil du sie praktischerweise dann morgen gleich mit zum Container nehmen kannst.
Wunderbar müde bist du jetzt, löschst die Lichter, gehst ins Bett und schläfst auf der Stelle ein,
den warmen Rücken spürst du schon gar nicht mehr.
Zwei Stunden später bist du wieder wach, schweißgebadet, dein Herz rast.
In der Dunkelheit stürzt alles auf dich ein.
Zwei Erwachsene und drei Kinder, im nassen T-Shirt denkst du, dass es doch zu verhindern gewesen sein muss, wie auch die Sache mit den Himmelslaternen, wie alles, das niemand gewollt hat und das dann plötzlich da war, unumkehrbar.
Sehr viel später gelingt es dir, doch noch mal die Augen zuzumachen, aber hinter geschlossenen Lidern flitzen die Bilder weiter.
Und dann wird die Welt, die du deinen Kindern manchmal so schlecht erklären kannst, wieder hell.
Dein Kopf brummt, dir ist ein bisschen schlecht, und zwei kleine Leute wollen wissen, ob du mit ihnen Plätzchen backst und Fledermäuse auf ihre Arme malst und spielst, dass du ein vor Hunger röhrender Haifisch bist.
Es ist sechs Uhr, und ab hier hat der Tag noch ungefähr 14 Stunden bei gleichzeitiger Schlechtwetterlage und pandemiebedingt kargem Zerstreuungsangebot.
Um halb 5 wird es dunkel.
Die Gläser 2-3, eigentlich schon das erste, tun dir früh leid: beim Plätzchen backen gibt es Streit, die Katze hat in den Flur geschissen und ein Gummistiefel fehlt.
Du arbeitest den Tag ab, irgendwie, er gehört dir nicht, obwohl ein paar faule Deals mit den Kindern gelingen: der Haifisch könnte doch auch an den Strand gespült worden sein, er muss sich ausruhen, ja, klar könnt ihr ihm Zöpfe flechten.
Als endlich, endlich alle schlafen, könntest du was zum 'runterkommen gebrauchen.
Im Schrank steht noch der Qualitätswein von der letzten Pizzalieferung, mit dem du dir deine nächste Hennapackung anrühren wolltest.
Vielleicht nimmst du ein kleines Glas.
Oder du tauschst diesen moribunden Rest Abend gegen eine Riesenportion Morgen ein.
Und bleibst hier, Mama:
in diesem Affenhaus namens Leben, in dem du dringend gebraucht wirst, so wach und stark, so lustig und bodenlos traurig und einfach da wie nur möglich.
6. November 2021
Ein Freund von mir hat Corona gehabt.
Krass sei's gewesen, bisschen unheimlich, schon, aber er sei froh, seinem Immunsystem Gelegenheit zur natürlichen Infektabwehr gegönnt zu haben.
Thank you for further information, reicht dann auch erst mal.
Falls inzwischen in irgendwelchen Hobbykellern Corona-Partys gefeiert werden, ich will's lieber nicht wissen. Nur das hier an euch:
ich bin Kleinkünstlerin im Sinne von Mikro.
Eine von denen, auf die keine Kamera schwenkt, wenn zwischen Rilke-Zitaten und vor dem nächsten Grauburgunder Verdrießliches zur Gesamtlage anzumerken ist.
Ich bin die mit dem Block und dem Stift und dem Schleim an der Schulter auf dem Fensterbrett.
Sobald ich meine Arbeit aussetzen muss, weil Schulen und Kindergärten schließen, weil gar nix mehr geht, werde ich unsichtbar.
Das geht ganz schnell, Wochen verfliegen.
Wieder sichtbar zu werden ist langwierig und fühlt sich hoffnungslos an, viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten deshalb jetzt in Autowaschanlagen und Imbisspilzen.
Mich interessiert einen Fick,
ob jemand geimpft ist wie ich oder nicht.
Mich interessiert die Bereitschaft, einfach aufzupassen.
Ihr, die ihr Corona immer noch für einen gigantischen Coup von Pharmaindustrie & friends haltet:
denkt kurz an mich, wenn ihr euch ohne Schutz in Hotspots aufhaltet, weil ihr euch gefeit fühlt.
Wenn ihr Quarantänen entschlüpft, wenn ihr euch darüber freut, wie seltsam oder lahm Gesundheitsämter manchmal auf Meldungen reagieren (warum aber warten eigentlich Leute Obrigkeitsanweisungen ab, die das Befolgen von Obrigkeitsanweisungen verachten?).
Wenn ihr euren Kids, bevor sie den Nachmittag in anderen Kindergruppen verbringen, den Lolly-Test aus Prinzip nicht zumutet - nicht mal dann, wenn es in eurem nahen Umfeld gerade welche übel erwischt hat. Wenn ihr uns nicht mal davon wissen lasst und uns somit zwingt, ahnungslos ein Risiko mitzutragen, an das ihr selbst nicht glaubt. Ganz ehrlich: ihr seid's eher nicht, die Kleinkünstlern in Notzeiten ihre kleine Kunst abkaufen, damit sie weitermachen können (davon, dass ihr's auch eher nicht seid, die Jugendlichen aus dem Coronablues helfen, und auch eher nicht die, die Genesungs-, Sterbe- oder Trauerbegleitung wagen, fange ich dann an anderer Stelle wieder an). Oder?
Lasst uns aufeinander aufpassen.
Das Leben und alles was es ausmacht, also womöglich sogar sehr kleine Kunst,
es ist alles so zerbrechlich.
8. Juli 2021
Als Schülerin hatte ich eine gepunktete Beutelturnhose und eine schlechte Note in Sport ab der ersten Klasse. Ich schwitzte bereits, wenn der Freitag mit der von Jahr zu Jahr mehr gefürchteten Doppelstunde nahte.
Oft hatte der Hausmeister schon mal was vorbereitet und wuchtige Gerätschaften in der Turnhallenmitte geparkt. Dort standen sie und rochen nach Schweiß, Angst und Leder. BOCKSPRINGEN, jammerte mein Schambein, WARUM???
Wer muss je im Alltag mit gespreizten Schenkeln Hindernisse überqueren und sollte das darum beizeiten üben?
Noch schlimmer aber war die Ankündigung eines Mannschaftsspiels: Gruppen wurden gebildet und Namen aufgerufen. Meiner blieb zuverlässig übrig, und nach peinlicher Diskussion wurde ich als Handicap zugeteilt. Das betroffene Team jaulte auf, und der Sportlehrer freute sich über alle Maßen, weil die Gesten größter Verzweiflung Arschbacken freilegten.
Krönung eines demütigenden Schulsportjahres waren die Bundesjugendspiele.
Am Vorabend schlief ich hoffnungsvoll mit Seife in der Armbeuge ein, erwachte mit Knochen aus Stahl und schlurfte ergeben auf den staubigen Platz wie ein Sklave in die Löwenarena.
Einmal bekam ich eine Siegerurkunde und schwebte fassungslos nach Hause. Dort saß ich mit der Urkunde auf der Treppe und drohte vor Glück zu platzen, bis der shapewadige jugendliche Schiedsrichter vorbeischlenderte und ein Gespräch mit meiner Mutter begann. Als sie die Stimmen senkten, horchte ich auf.
"Auch mal ein Erfolgserlebnis", zischelte es mitteilungsfreudig, "bisschen bei den Punkten geschummelt" und "tut einem ja auch leid".
Meine Mutter gab ihm fünf Mark, ich stahl ihr weitere zwei, kaufte Schokolade und zerriss bittere Brocken schlingend die verdammte Urkunde.
Von der Einschulung bis zum Abschlusszeugnis war ich von meiner Unsportlichkeit überzeugt und vermied aus Angst vor Lachern zwanghaft zu rennen, was mich auf einer vielspurigen Autobahn in Singapur fast das Leben gekostet hätte.
Mit zwanzig ging ich zur Aufnahmeprüfung in einer Schauspielschule.
"Balancieren Sie diesen Ball tänzerisch auf dem Handrücken", sagte der Schulleiter, und kurz darauf "Ah, okay".
Ich wurde unter Vorbehalt aufgenommen.
Jeder Tag begann mit Körpertraining, schrecklich, aber bald sah ich ein, dass ein Mangel an Kondition auf der Bühne Drama bedeutet.
Und so fing ich an zu kämpfen,
nahm steile Treppen und rohe Eier wie Rocky Balboa.
Fand Spaß daran. Wurde besser und besser.
Noch heute kann ich aus dem Stand losflitzen und lange rennen. Mimikneutral bewege ich Tonnenschweres, zum Beispiel die Weltuntergangskatze auf meiner Seele.
SCHEISS SCHULSPORT, rufe ich meinem nunmehr rosinengesichtigen ehemaligen Lehrer zu, und verziere das mit einer Handbewegung.
ICH BIN SCHNELLER ALS DU!
15. Dezember 2020
Zwei Jahre hab' ich gebraucht, so lange standen die Kisten im Flur. Alle sind darüber gestolpert, AUA, Mann!
Wann räumst du die denn endlich mal aus?
Bald.
Heute hab ich's gemacht und bin ganz stolz auf mich. Die Dinge, viele Zettel aus betäubt leer geräumten Schubladen, haben so lange in meinen Händen gelegen beim zähen Verpacken, das so weh getan hat. Heute finden sie schnell neue Plätze, als hätten sie geduldig darauf gewartet.
Eine kleine Flasche mit Terpentin ist ausgelaufen, es riecht nach früher: Tusche und Reiniger, Stifte, Wasserfarbe, Schweiß, Erde, Äpfel und versteckte Süßigkeiten.
Ich denke an Weihnachten, an unser Gebrülle und Gelache, laute Musik und Räuber Hotzenplotz mit Gert Fröbe, die Heizung auf Fünf, endlose Wortgefechte, unerträgliches Gefrotzel und diese tiefe Liebe, überall zerrupftes Geschenkpapier, die Kids außer Rand und Band, ein Papa zwischen Freude und Wahnsinn, oh, wenn doch die Mama noch leben würde.
Er verschwindet und wenig später ist der Weihnachtsmann da, SCHEISSE ruft er, als er auf der Treppe stolpert.
Fragt die Kinder, ob ihre Mutter auch brav gewesen ist.
NAIN, schreien sie begeistert.
Es ist leiser in mir geworden, stille Nacht, ich hab' so seltsam viele Füchse gesehen in dem Winter, in dem ich oft ziellos durch den Vogelsberg gefahren bin um nicht schreien zu müssen.
Einmal bin ich eingeschlafen und habe von einem Krankenzimmer voller Füchse geträumt,
ihr Atem ein feiner Nebel, in der Mitte das Bett mit dem königlichen Riesen, der immer alle zum Lachen gebracht hat und zuletzt dazu, aus Erschöpfung zu weinen.
Sterile Cafeteria in Fulda, endlich kommt ein Arzt, sein Blick meint uns nicht, wir haben ihn nie gesehen.
Also, Ihr Vater hat eine sehr schlechte Performance, ich denke wir machen nichts mehr, alles Gute,
ich muss leider wieder.
Im Hintergrund ronkelt sich jemand ein Snickers aus dem Automaten, bumst das Ding förmlich, drischt auf den Münzeinwurf bis es endlich brummt und klappert.
Beobachtet dabei interessiert, wie drei Kämpferinnen zu Staub zerfallen.
Performance.
Als wäre er ein verflixter Seiltänzer, aber er ist doch noch er, auch wenn der verdammte Tumor seine Sprache zerdrückt, seine Zeichenhand gelähmt hat und jetzt seinem Ich unaufhaltsam auf die Pelle rückt.
Zwei Jahre seit dem einen, in dem etwas in mir erfroren ist.
Wie laut Stille sein kann, wenn vorher so viel war, wie unglaublich es bleibt, dass es fort ist.
Ich vermisse meinen Papa Henry, ich vermisse meine Ma, ich vermisse die Sabine, die ich gewesen bin, bevor die Füchse kamen.
Weihnachten ist schön.
Aber gar nicht so einfach.
06. November 2020
Einmal wird es mir zu viel,
und zwar alles auf einmal.
Irgendwas war schon morgens schief gelaufen, irgendwas auf dem Heimweg vom Kindergarten und schon eine ganze Menge davor.
Die Mahnung, der Anruf einer Verärgerten, das im Zettelchaos verschwundene Schreiben, das Chaos an sich, die ewige Müdigkeit, das Gesamtweltgeschehen, fehlende Freundinnen, fehlende Unterstützung.
Als meine Stimme lauter wird, die Worte knapper und allerlei gestapeltes Gerümpel in meiner Brust zu einem sperrigen Klumpen, nehme ich meine kleine Tochter an die Hand und gehe in ein Café.
Komm, wir teilen uns ein fettes Stück Kuchen, dann wird's gleich besser.
Und dann wird es nicht besser.
Die beiden Frauen am Nebentisch erwidern unseren Gruß mit genervtem Gemurmel, eine rafft ihren Mantel beiseite.
Nicht, dass sich ihr Kind noch den Mund dran abwischt.
Ein aufsteigender Viertelliter Tränen trifft auf den Klumpen in den Kehle, der Klumpen weigert sich, Platz zu machen, es kommt zur Explosion.
Komm, 'raus hier.
Mama! Wüllaba Kuchen!
ANZIEHNJETZT!
Lachen von den Frauen am Tisch, silberne Gabeln piksen in Kuchenstücke und verächtliche Blicke in meine Seele.
Dann stehen wir draußen.
Es nieselt auf grauen Asphalt, natürlich, meine Tochter protestiert wegen des kuchenlosen Abmarschs, na klar. Durch die Scheibe des Cafés sehe ich die Frauen, die ich zum Abschied FREUDLOSE ZIMTZICKEN genannt habe. Gemütlich und gänzlich unberührt schlürfen sie sie aus großen Tassen, der Mantel liegt wieder ausgebreitet.
Da zerfällt der Klumpen.
Die Tränen schießen unaufhaltbar an seinen Trümmern vorbei.
Ich kann nicht mehr.
Auch nicht lügen, dass der Mama was ins Auge geraten ist.
Auch nicht in die Knie gehen und sagen, dass es gleich wieder wieder gut wird.
Und dann plötzlich wird es gut:
aus der in der Fußgängerzone vorbei strömenden Menge löst sich ein Gesicht,
eine Fremde hebt meine Tasche auf und nimmt mich in den Arm, und wo sie schon mal dabei ist, meine Tochter gleich mit.
Im Regen, umgeben von achtloser Hektik, stehen wir so, wir drei Frauen. Nach einer Weile löst sich die andere, stellt eine Frage, verzichtet auf Ermahnungen und Tipps, sagt ein paar ehrliche und stärkende Dinge, lächelt, verabschiedet sich und geht.
Die kleine Hand meiner Tochter legt sich in meine.
Hab' dich lieb, Mama.
Ich dich noch mehr, tausendmillionenmal.
Wir gehen nach Hause, und die Frauen im Café, der Klumpen, die Tränen, die Verlorenheit bleiben im Nieselregen zurück,
der mich nichts mehr angeht.
Weil in dem Moment, als alles zu viel war, ein einziger Mensch Unerhörtes gewagt hat:
anders zu sein.
27. Oktober 2020
Zum Casting hatten sich viele junge Frauen eingefunden, sie drängten sich im Theaterhof, alle blond mit am Hinterkopf sorgsam zusammengesteckten Flechtzöpfen.
Gretchen gesucht!
Der Aufruf war im Radio gelaufen, ich hatte ihn verpasst, aber in letzter Sekunde noch vom Vorsprechen erfahren. Also kam ich zu spät, in klobigen Wanderschuhen, mit einem Körbchen voller schmackhafter Mischpilze.
Ohnehin auf eine Absage gefasst, verpatzte ich meine 5 Minuten auf der Bühne mit einigen fröhlichen Hopsern, improvisierte einen tödlichen Dolchstoß, hopste abermals und empfahl mich.
Der Anruf kam Wochen später.
Das auserkorene Gretchen war nach wenigen Proben gefeuert worden, die neue Wahl war auf mich gefallen, noch am Abend wurde ich dem Hauptdarsteller vorgestellt und verliebte mich auf den ersten Blick. Wir probten, wo später gespielt werden sollte: Freilicht, im historischen Herzen der Großstadt. Faust, der hochgewachsene mit den wasserblauen Augen, hatte Fans: wie sehnsüchtige Eulen saßen sie zu Dutzenden auf dem Gemäuer um das Gelände und wohnten bei Wind und Wetter den Proben bei. Schon die erste ließ mich ahnen, woran das ehemalige Gretchen zugrunde gegangen war.
Der Regisseur, zartgliedrig mit etwas krötenhaften Zügen, kauerte in oberster Reihe auf der Zuschauerbühne und sprach in ein Megaphon.
Fast nie legte er es beiseite, der graue Riesentrichter schwebte über seinem knochigen Rumpf wie ein düsteres Mondgesicht.
"Des Greetsche", hallte die Stimme des Herrn, "is e Kaddasdrooofe. Nochemaaal des ganssse von vorn."
Ich schrie zurück, dass ich ja das erste Mal da sei, fand aber kein Gehör.
Kehrte in den Hartriegelstrauch zurück, aus dem ich auftreten sollte, und betrat singend den Plan.
Wieder und wieder.
Bis zum Nachmittag hatte mir die anhaltende Bloßstellung vor Publikum übel zugesetzt.
Meine lauteren Gefühle, meine legendäre Naivität, meine unbefleckte Tugendhaftigkeit: zusammengebrüllt zu einem Häuflein Elend.
Wie ein Aufziehroboter zockelte ich auf den Faust zu, der mit nunmehr hängenden Schultern der Dinge harrte, stieß den Kiefer vor und versetzte ihm einen blechernen Kuss.
"Aaaah", seufzte es von den Mauern.
"Aua", jammerte Faust.
"Des Greetsche is e Kaddasdrooofe", schepperte es aus heiterem Himmel.
Ich hielt durch, das Stück gelang, ich wurde erneut engagiert. E Kaddasdrooofe, ein Fußabstreifer verschiedener schlechter Launen, zu jung, zu pleite und zu wenig selbstbewusst um weitere Engagements dankend abzulehnen.
Irgendwann wurde ich durch eine andere Berufsanfängern ersetzt, ich stand einfach nicht mehr auf der Besetzungsliste für das nächste Stück.
So schnürte ich mein Bündel, lachend und bitterlich weinend.
Noch lange vermisste ich die wenigen, von denen ich gelernt hatte, die Freunde geworden waren.
Es war keine Frau darunter.
Wäre das aus geschundenem Boden entwichene Gift in der Damengarderobe sichtbar gewesen, wir hätten durch Schwaden nach unseren Schutenhüten getastet.
Die Wut blieb noch lange, sie galt auch meiner eigenen Feigheit. Noch Jahre später dachte ich mir aus, wie ich mich eines Tages rächen würde:
"Ei guggemaaal, wen habbe mer dann doo", käme es leutselig von der Seite, und es wäre die Kröte, statt an ihr Megaphon an einen Rollator geklammert. Meine Antworten variierten je nach Grundverfassung pro Rachephantasie von "Autogrammwünsche bitte an meine Agentur, danke" über "Ihr Lätzchen ist verrutscht, soll ich's wieder schön festbinden?" zu "Fuck you, you fucking fuckfucker".
Eines Tages las ich von seinem Tod.
Er hatte ein gesegnetes Alter erreicht und seine eigene Grabrede geschrieben, nicht arm an schütter von Bescheidenheit ummantelten Eigenlob. Viele Stunden habe ich an abscheulichen Retourkutschen gezimmert, unzählige Nächte darüber wachgelegen.
Er, den meine Gedanken so oft umkreisten, hat nie davon erfahren und sich von Gretchen zu Gretchen dem letzten Atemzug entgegengehangelt.
Ich nehme mir vor, lieber an kühnen Ideen als an Rachephantasien zu feilen.
Ihm selbst wünsche ich Frieden und Glück.
Und dass der liebe Gott kein Megaphon benutzt.
16. Oktober 2020
Noch heute gerate ich ins Schwärmen, wenn ich an meine Jahre als Kellnerin zurückdenke.
Denkt man im Strandhotel Kaiserhof auch noch an mich?
Ich hatte das denkbar Beste aus dem mir unwirsch zugeteilten Set aus Rüschenbluse und Bleistiftrock herausgeholt. Ich jonglierte mit Tellern und Tabletts und geizte nicht, wenn es um Getränkeausschank oder meine Telefonnummer ging. Ich war stets bereit für einen munteren Abtausch von Schlagfertigkeiten, durchtrieben,
aber niemals plump.
Ich war so voller Anmut und Pfiff.
Ich war - "Nicht beschleunigbar."
Die näselnde Stimme ließ mich vor spektakulärem Sonnenuntergang herumwirbeln, sie gehörte dem hageren Greis, der die Neptunplatte bestellt hatte.
"Ganz recht, Fräulein", setzte er nach. "Man kann Ihnen ja beim Arbeiten die Schuhe besohlen!"
Wie betäubt brachte ich meine Schicht und endlich den fürderhin verhassten Ferienjob hinter mich.
Mein Groll war bodenlos, aber mit den Jahren reifte die Einsicht, dass was dran war an der Sache:
ich bin von unterdurchschnittlicher Geschwindigkeit.
Ich bin langsam!
Und gleichzeitig, bedingt durch den Alltag mit Kindern, auf Hochtouren.
Für andere mag sich das Bild einer Mutter von fast quälender Gelassenheit bieten,
aber meine Tachonadel zittert zwischen erforderlicher Leistung und hoffnungsloser Werkseinstellung.
Nie bin ich schnell genug:
nicht an der Kasse im Supermarkt, nicht auf der Bundesstraße, nicht beim Sackhüpfen auf dem Kindergartenfest.
Ich bringe Fremde dazu, kehlig aufzustöhnen oder zu hupen.
Ich bringe meine Kinder zum weinen,
wenn mich die anderen Mütter auch noch beim Eierlauf in trägem Trimmtrab überholen. Aber da ist der knittrige Zettel aus meiner Erinnerungskiste:
irgendjemandem hatte es nichts ausgemacht, nach etwas geraumerer Zeit ein Bierchen mit zerfallener Krone zu erhalten.
Ich lese ihn und hüte ein Geheimnis, in dem es um die Nichtbesohlbarkeit von Schneckenfüßen geht. Und um die fein glänzende Spur, die nur aufrichtige Behäbigkeit zu hinterlassen vermag.
Finde dein Tempo, wahre es würdevoll und lerne es lieben. Und wenn dir danach ist:
Mamma langsam!
20. September 2020
Helga muss die Lesebrille aufsetzen, um dem Kleingedruckten unter der Knackfrischegarantie beizukommen.
JETZT GEWINNCODE HOCHLADEN UND ATTRAKTIVE RETRODOSE SICHERN!, steht auf der gelbblauen Kekspackung, und vor Aufregung knistert sie ein bisschen damit. Dann lädt sie unverzüglich den Code hoch, und zwei Wochen später wird sie stolze Inhaberin einer Dose aus limitierter Auflage. Gratis!
Wie der Teigschaber, den sie sich bei der Krankenkasse gesichert hat, der Flaschenöffner vom Katastrophenschutz und das Seifenschälchen aus der Apotheke. Im Supermarkt tauscht sie Treuetomaten ein und sichert sich eine Geflügelschere von so großer Formschönheit, dass sie völlig vergisst, dass sie gar keine braucht.
Auch der gesicherte Party-Eierschneider, der gesicherte Butterstempel, der gesicherte Zwiebelzopf, naja.
Aber was wäre das für eine Welt, in der es nichts mehr zu sichern gäbe?
Haltlos würde sie durchs All treiben, weiß Helga, und sichert sich einen personalisierten Müslinapf.
Als es ihr eines Tages nicht mehr gelingt, die Haustür aufzustoßen, weil sie von einer Lawine aus Nackenhörnchen, Lavendelsäckchen und praktischen Dosensets zugehalten wird, ruft sie bei den Stadtwerken an.
Könnte ich eine größere Mülltonne haben?, keucht sie ins Telefon. Ich brauche Platz!
Sicher, sagt eine freundliche Stimme.
Und Helga, erleichtert und glücklich, sichert sich eine.
17. September 2020
Während alle Welt damit zugange ist, in närrischer Einfalt irgendeinem flüchtigen Glück nachzujagen, bezog meine Uroma Johanna tiefe Seelenruhe aus dem zuverlässigen Eintreffen abscheulicher Begebenheiten.
Eingekeilt zwischen einer sargförmigen Standuhr und anderem Dunkelholzgemöbel erwartete sie mich, vor sich eine offene Keksdose und ein Stapel sorgsam ausgeschnittener Zeitungsartikel.
So viel passiert zwischen Sonntag und Sonntag:
man hatte ein altes Ölfass gefunden und darin einen Rentner, erwürgt, nein, erdrosselt mit seinen eigenen Hosenträgern, anhand derer er identifiziert werden konnte.
Man hatte eine verwirrte und von unzähligen Mückenstichen entstellte Frau aus einem Hochsitz mit umgekippter Leiter befreit.
Man hatte ein Auto aus einem Morast gezogen.
All das, sagte Johanna, mit geweiteten Augen tief über den Zeitungsausschnitten schwebend, sei im Taunus geschehen.
Wie immer, flüsterte sie, und gefesselt von ihrem echsenhaften Hauch und den Spritzkeksen mit Schokolade vergaß ich zu fragen, wo und was der Taunus eigentlich sei.
Mein Kinderkopf fand Bilder:
ins Nichts führende Schotterwege, bedrohlich wogende Fichten, heimtückisches Grün. Ganze Pfadfindergruppen stapften pfeifend hinein und nie wieder hinaus.
Der Taunus konnte überall sein.
Der Taunus war schrecklich.
Bis ich eines Tages eingeladen war, mit meiner Freundin Bärbel in die Pilze zu gehen.
Wohin fahren wir denn?, fragte ich, wippend vor Aufregung.
In den Tauuuuu-nussss, sang Bärbels Vater, aus dessen Hosentasche ein Messer ragte, und schlug lachend die Autotür zu.
Die Fahrt über starrte ich in mein Körbchen, in meinen Ohren toste der Westminsterschlag der Standuhr.
Mit uns fuhr jede Hoffnung dahin, aber siehe:
so steif und todesergeben ich am Ziel aus dem Auto stieg, so fröhlich hopste ich kurze Zeit später über helle Lichtungen.
Spaziergänger, die wir trafen, winkten und wankten unter der Last ihrer Pilzbeute,
niemand schickte sich an, eine Leiche ins Dickicht zu wuchten.
Der Taunus ist ist von großer Schönheit,
vom Himmel aus sieht das auch Johanna.
Wie muss sie sich wundern!
Ich wünschte, sie hätte darauf verzichtet, in ihrer kleinen, stickigen Wohnung auf die Zeitung unter dem Türschlitz zu warten. Ich wünschte, sie hätte die wohlige Furcht vor der Welt nicht gewinnen lassen.
Ich wünschte, sie hätte den Mantel vom Haken genommen und wäre losgezogen, um ihn staunend mit eigenen Augen zu betrachten:
den Taunus, den unerreichten
Taunus.
03. September 2020
Die Freundin meiner Mutter hatte ein fröhliches Apfelgesicht, kurze, schwarze Haare,
eine Vorliebe für bunte Röcke und sieben Kinder.
Ich war sechs Jahre alt und weiß noch, dass der Sommerhimmel ganz blau war, als sie und ihr Mann mit dem vollgepackten Passat auf den Bordstein vor unserem Haus rumpelten.
"Das erste Wochenende ohne die Affenbande!",
rief die Freundin durchs Fenster, und irgendwo im Auto dröhnte ein vollbärtiges "Hurra!".
Meine Mutter stand auf der Treppe, reckte beide Daumen nach oben, ließ peinlich die Hüften kreisen,
und schon waren sie auf und davon.
Einen Tag später, auf der gleichen Treppe, erzählte mir mein kreidebleicher Papa was passiert war:
auf der Landstraße hatte jemand eine Cassette gewechselt, war ins Schleudern geraten und frontal in den gelben Passat gerast.
Die Freundin meiner Mutter war sofort tot, ihr Mann wenige Tage später, die sieben Geschwister fürs Erste aufgeteilt unter Verwandten.
Ich weiß noch, wie meine Mutter das jüngste Kind der Familie durch unseren Garten schuckelte,
während alle anderen bei der Beerdigung waren.
Hin und her,
vom alten Apfelbaum bis zum Schuppen und zurück,
unendliche Stunden lang.
Ich weiß noch, dass sie anfangs gesungen hat.
So lange, bis sich die unablässigen "Mama!"-Rufe der kleinen Marion mit ihrem Schluchzen vermischten.
Ich sehe ihre Gesichter vor mir,
das große und das kleine,
ganz verschmiert von Schleim und Schmerz.
Die Bilder sind seit einiger Zeit wieder da,
vielleicht liegt es an der gegenwärtigen Zerbrechlichkeit von allem.
Wie viele sind wir eigentlich, die wir füreinander sind, Familie, echte Freundinnen und Freunde?
Ich zähle nach, es geht schneller als als früher.
Und ich nehme mir vor, Nachsicht zu üben, so lange bis ich sie auswendig kann.
Keinen unentwegten Gleichklang einzufordern,
wenn vorübergehend alle durcheinander brüllen.
Wenn ebenso mir verziehen werden kann,
wann auch immer das nötig sein wird,
wenn mir gelegentliche Unerträglichkeit gestattet bleibt, wenn ich falsch liegen und nicht richtig ticken darf: dann bin ich Freundin,
so stark und so lange ich nur kann.
03. September 2020
Man kennt sich in einer kleinen Stadt,
mal mehr und mal weniger, etwas Unterstützung sortiert die Gesichter zurecht.
Einmal ist Anne zu einer Preisverleihung eingeladen, ausnahmsweise kann sie ihr Mann Jochen begleiten, am helllichten Werkvormittag.
Sie freut sich, dass sie ihn, den Unentbehrlichen, weggelassen haben in der großen Fabrik.
Sie ist stolz, dass der Preis, der heute verliehen wird, ganz und gar ihrer ist.
Die Firma, für die sie gelegentlich arbeitet, wird von einer Frau geführt. Am Ende eines Spaliers aus Stadtoberhäuptern und Pressevertretern steht sie mit einem riesigen Lilienbouquet, biegt mit der freien Hand ein Mikro zurecht und erzählt vom hochdotierten Projekt, dessen Konzept Annes Idee war.
Leider will ihr an der Stelle, wo Annes Name fallen müsste, Annes Name nicht einfallen.
Zum Glück hat Anna Jochen dabei, dessen Name sogar auf einer kupfernen Ehrenbürgertafel im Park vermerkt ist.
So kommt es, dass Anne als "die Frau vom" vorgestellt wird. Ein anerkennendes Murmeln erhebt sich: man sieht ihr die Fabrik gar nicht an,
den Mann auch nicht.
Die Frau vom!
Das klingt doch fast ein wenig adelig, was guckt sie nur so aus der Wäsche?
Am nächsten Tag wird ihr gekränktes Gesicht in der Zeitung zu sehen sein, peinlich berührt wird man blättern.
"Die Frau vom", da hat man doch allen Grund, sein schönstes Lachen aufzusetzen.
Anne lacht, später:
Zu Hause, mit den Kinder, als Jochen längst wieder in der Fabrik ist, gerade noch rechtzeitig zum Montagsmeeting.
Morgen, wenn alle in der Schule sind, falls nachts niemand kotzen muss, wird sie den Flur putzen, den Backofen entkrusten und ein bisschen arbeiten.
Also, richtig arbeiten, nicht das ganze Haushalts- und Familienzeugs.
Es lohnt sich, Hand aufs Mutterherz, meistens nicht.
Wenn bei Kunden durchsickert, wer sie ist,
"die Frau vom" nämlich, vom und zu,
dann werden Jobs regelmäßig zur guten Sache.
Dann dampfen Budgets ein,
schrumpft ihr Honorar zur Aufwandsentschädigung,
befällt ihren eigentlichen Stundensatz eine tödliche Schwindsucht.
Das übrige Trinkgeld reicht für ein Snickers und eine schöne Gartenzeitschrift am Kiosk.
Das ist doch was,
da sollte sie dankbar sein,
Anne Frauvom.
Und ihre Arbeit, die sie immerhin geistig rege hält,
beschäftigt und vor Streifzügen durch teure Boutiquen bewahrt,
freudig verrichten.
Oder nicht?
01. September 2020
Sieben Leben hat die Katze,
und eine geheime Anzahl unsichtbarer Schutzschichten bekommt jede Frau, wenn sie Mutter wird.
Die Schichten schützen nicht nur in zerrupften Nächten, während Elternabenden, auf der Suche nach unauffindbaren Kuscheltieren.
Sondern auch, wenn sehr viel Schlimmeres passiert, und Durchdrehen aufgrund angetretener Elternschaft entfallen muss.
Das macht sie wahnsinnig kostbar,
mit der Zeit aber tragen sie sich ab.
Eines Tages trifft dich ein kalter Hauch, du willst deine Schutzschicht enger ziehen und findest keine mehr.
Ab jetzt geht dir alles unmittelbar unter die Haut:
wie missbilligend die Frau in der Bahn deinem Kind auf das Edding-Tattoo starrt,
wie der rotgesichtige Mann hupt und fuchtelt, als du aufgrund eskalierender Ereignisse auf der Rückbank an der Ampel ein klein wenig länger brauchst.
Alles, einfach alles.
Aber gerade, als dich die tiefste aller Müdigkeiten überkommen will, fällt dir der Trick ein:
Mütter, die sich auch um sich selbst kümmern, finden zu neuen Schutzschichten.
Sie legen sich um dich, eine nach der anderen, wenn du ganz dein Ding machst.
Du weißt um die ureigenen kleinen und großen Dinge, die ausschließlich deine sind,
und dass das selbst gemalte Schlumpfdorf an der Kinderzimmerwand eventuell nicht dazu gehört.
Tu, was du willst, nur ab und an, aber mit größter Disziplin. Dann wird es wärmer und wärmer.
Die Freudlosigkeit verfliegt: frag' die missbilligende Frau, ob sie auch ein Tattoo haben will, und sie muss lachen. Entdecke den Rotgesichtigen auf dem Parkplatz hinter der Radarkontrolle.
Mach' dein Ding, gewinne dich zurück, Schicht um Schicht.
Sieben Leben hat die Katze, aber die Wahrheit ist:
es sind sehr viele mehr!
Wenn sie nur auf sich aufzupassen versteht.
13. Juli 2020
Kurz nach der Geburt meines dritten Kindes ging die Waage kaputt. Eine Zeitlang spielten die Zahlen verrückt, dann pendelten sie sich bei einem Gewicht ein, das mir vorgaukeln wollte ich sei ein mit Bügeleisen behangenes Flusspferd.
Ich stellte sie zum Sperrmüll und verzichtete darauf, ein weiteres so störungsanfälliges Gerät anzuschaffen.
Ungewogene Jahre vergingen, bis ich letzten Samstag aus Langeweile seitlich aus einer Apothekenschlange scherte und ein eisernes Trumm mit altmodischer Gewichtsanzeige bestieg.
Freudig sprang der Zeiger auf eine Zahl.
Ich erstarrte zur Salzsäule, wankte vor Schreck.
Verlor fast das Gleichgewicht, hielt mich kurz an einem Regal fest und legte dabei meinen Schlüsselbund ab. Der Zeiger vibrierte, ließ von seiner verstörenden Mitteilung und wanderte einen guten Millimeter nach links.
Ich schöpfte Hoffnung und fuhr aus den Sandalen.
BARRR, sagte der Zeiger.
BARRR bei der leichten Sommerjacke.
BARRR, als ich den Gürtel zog, und BARRR nach Entfernung einiger Bonbons, Glitzersteine und Dietriche aus der Hosentasche.
Dann war es eine Weile lang still.
Ich hörte mich atmen.
Dann fielen Bluse, Jeans und BH, und jeweils mit ihnen der Zeiger.
Haarnadeln, Brille, Ohrringe, Zahnspange.
Eine Frotteeunterhose mit Zierschleife wiegt 200 Gramm, aha, oho.
Erleichtert stieg ich ab.
Beim Anziehen brachte ich die Rechnung zu Ende:
die zuletzt gezeigte Schnörkelziffer minus ca. 4 Kilo für anlagebedingt schwere Knochen.
1 Kilo für den Dutt und andere üppige Behaarungseinheiten.
1 Kilo für eventuelle Nierensteine, Plaque und den nie entfernten Blinddarm.
1 weiteres Kilo für Kleinkram, Fußnägel und aufgetragene Lacke mit Metallpartikeln (!).
Wahrscheinlich maßlos untertriebene 10 Kilo für mein oft so schweres Gemüt.
Ich hörte den Apotheker atmen und verabschiedete mich schweren Herzens vom Ort des Triumphs nüchterner Statistik über tumbe Behauptung.
Schweres Herz = minus 1,5 Kilo.
Mein lieber Scholli. Mindestens.
22. Juni 2020
An Sonnensonntagen guckt abends jemand auf die Uhr und ruft, dass das ja wohl nicht wahr sein kann, und dass jetzt aber alle schleunigst in die Koje müssen.
An dunklen Regensonntagen rufe ich das manchmal schon gegen elf, aber die Kinder kennen den Trick. Darum war ich heute trotzdem draußen, im strömenden Regen, mit dem kleinsten Kind.
Am schönsten Ort, der mir für dieses Unterfangen eingefallen ist.
Dort gibt es Röhren, in die man krabbeln kann. Röhren für Kinder, die sich an schönen Tagen gegenseitig brüllend hindurch jagen, aber heute waren nicht viele da. "Komm schon", hallte die kleine Stimme aus der klammen Dunkelheit, also kroch ich hinein.
Der Regen hatte alles nass und glitschig gemacht, ich kam schlecht voran und war froh, als der Tunnel in einen metallgitternen Schlauch überging, der sich über eine kleine Kiefernlichtung wand.
Aber nur ganz kurz.
Unter dem Schlauch stand eine vielköpfige Familie und sah zu mir rauf. Ich arbeitete mich über ihren Häuptern entlang, ein verzweifelter Wal, vor und zurück glibbernd wie ein Stück Seife.
Jemand hob sein Handy,
und aus der Ferne rief mein Kind hoffnungsvoll, dass gleich eine Brücke kommt, für die ich nicht zu dick bin. Und dass es ansonsten Hilfe holt.
Also, ich bin jetzt wieder zu Hause.
Und in Gedanken bei all den anderen Elternteilen, die wie ich meistens allein mit den Kindern umherziehen.
Es ist Regensonntagabend.
Kann sein, dass wir gerade auf YouTube viral gehen, und dass fremde Leute unter unser Video Dinge schreiben wie OMG, WAS ZUM TEUFEL IST DAS?!? oder TÖTET ES, BEVOR ES EIER LEGT.
Aber, hey: Wir haben es geschafft!
Und morgen scheint wieder die Sonne.
18. Juni
Ich habe mir deine Missgunst vor Jahren eingezogen wie einen Splitter, und da steckt er nun in mir und tut schon gar nicht mehr weh. Ich kann ihn sehen, dunkel schimmert er unter meiner Haut. Wenn es kälter wird, spüre ich ihn.
Vermutlich ist auch etwas von mir unter deine Haut gefahren, rumort, ich habe es versucht zu entfernen, es ist schlimmer geworden.
Es geht nicht um uns, wir tragen anderes aus.
Ungesagtes, unerhörtes.
Etwas aus den alten Reihen, etwas tief aus uns selbst, erstarrt in einer Zufriedenheit, die den Verlust ihrer Gültigkeit verpasst hat.
So viele Splitter unter dünner Schicht.
Hass ist ein dreckiger, peinlicher Schmerz.
Man muss sich nur ausmalen, wie man sich unvermeidlich begegnet und dann nicht weiß, wohin mit dem Glas, dem Blick und dem Körper.
Man muss doch um Versöhnung bemüht bleiben.
Muss man? Auch wenn jeder Schritt mahlt und knarzt über der höflichen Lüge?
Noch heute könnte ich beschließen, dir einen Gefallen zu tun:
ganz klein könnte ich mich machen, um mich sauber gefaltet in die von dir für mich vorgesehene Schublade quetschen zu lassen.
Ich wäre unglücklich, und endlich hätten wir etwas gemeinsam.
Etwas in mir flüstert, dass deine Missgunst bleiben würde.
Darum bleibe ich da, als ich selbst, voller Fehler.
Bestrebt, meinen eigenen Platz in der Welt zu behaupten, um nicht meinerseits Splitter und Verletzungen weiterzugeben.
Das ist mein großer Auftrag,
so nichtig er dir erscheinen mag.
Komm zu mir, wenn du erzählen willst, ehrlich und von dir selbst. Bis dahin:
ach, hass mich doch in Ruhe.
9. Juni 2020
Heute war kein guter Tag. Aber Abends: das kleinste Kind hat eine blaue Murmel in Papier gewickelt, die Glitzerhandtasche geschultert und will in den Supermarkt. Es ist dringend. Ich brauche noch was, also los. Zwei Gläser Erbsen und eine Tüte Puffreis später zeigt sie auf eine Kassiererin, die ich nicht kenne. Als wir bei ihr angekommen sind, schiebt ihr eine kleine Hand die glänzende blaue Murmel hin. Die Frau hebt kurz den Kopf, beide nicken sich ernst und wortlos zu. Dann schiebt die Kassiererin eine große Rosenblüte zurück.
Wir gehen.
Heute war kein guter Tag,
aber etwas Hartes, zu Schnelles, dumpf im Kreis Stapfendes verschwindet aus mir.
Solange die kleinen Tauschgeschäfte funktionieren, sind die großen Sachen in Ordnung.
Oder?
11. Juni 2020
In letzter Zeit betrete ich aus Versehen Fettnäpfchen und Schlipse, meistens dann, wenn ich etwas besonders gut machen wollte. Auf magische Weise misslingt fast alles! Mitten im Vollzeitmissgeschick hat mir eine Freundin, mit der ich aufgewachsen bin, vom Tod ihrer Mutter erzählt. Es traf mich wie ein Blitz, ich hätte sie so gerne gedrückt, aber sie wohnt weit weg. Also schrieb ich ihr einen Brief, im Auge der verwüsteten Küche. Und wo ich schon mal Platz gemacht hatte, auch noch einen an eine Freundin mit Geburtstag: um mich selbst aufzuheitern mit einem nackten Mann, der Unaussprechliches mit einer Sahnetorte vollzieht. Dann kam ein Kind auf meinen Schoß, das Telefon klingelte, die Katze verlangte nach Essen, etwas fiel um und machte Strumpfhosen nass. Geschrei.
Und so ist es passiert, dass ich die Adressen vertauscht habe. Den Trostbrief an die Freundin mit dem Geburtstag, den nackten Sahnemann an die Traurige. Am nächsten Tag schickte mir die Geburtstagsfreundin eine SMS mit dem Hinweis auf das offensichtliche Missgeschick. Ein zweiter Blitz des Entsetzens durchfuhr mich. Ich war mir sicher, die Freundin mit der gerade gestorbenen Mutter durch unverzeihliche Schussligkeit verloren zu haben. Gerade kam eine Nachricht von ihr:
Kann es sein, dass du Briefe vertauscht hast? Ich hab' gerade zum ersten Mal seit drei Wochen wieder gelacht. Meiner Mutter hätte dein Versehen so gut gefallen. Danke! Deine alte Freundin Y.
Das Leben macht oft nicht an den Stellen froh, wo man auf Freudigkeiten wartet. Zum Glück aber auch umgekehrt!