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Lieschen

Die Oma der Fußpflegerin einer Nichte hat einen Küchenschrank, in dessen gläserne Scheiben Fotos und Kinderkritzelbilder geklemmt sind. 

Ganz hinten in seinem Inneren liegt ein Stapel säuberlich ausgeschnittener Papiere, Zeitungsanzeigen alter Freundinnen und Freunde sind das, und zwar die jeweils letzten. Sie selbst ist noch übrig und weiß nicht recht, was sie damit anfangen soll. Oft sitzt sie in der Küche und wartet sorgsam frisiert auf den Tod, der aber offenbar anderweitig alle Hände voll zu tun hat. Andere schauen dann und wann vorbei, Nachbarn oder Verwandte oder Frau Lautenschläger von der Stadtmission mit ihrem immerfort frierenden Hund. Niemand vermag sich mit denen aus dem Papierstapel zu messen, es ist ungleich leichter ein rundheraus vergnüglicher Mensch zu sein wenn man nur erst tot ist. 

Einer aber ist an ihrer Seite, seit einem Jahr schon.

Es handelt sich um einen am Fensterkreuz wohnhaften Marienkäfer. Erwin hat sie ihn getauft, Erwin Birnbaum nach ihrer Jugendliebe. Sie haben sich viel zu erzählen, wenn er zwischendurch einnickt weiß sie sich die Zeit anderweitig zu vertreiben: dann beräumt sie das verwinkelte Haus von allem Überfüssigem.

So viele kalte Zimmer, und alle riechen noch nach Räucherwurst, Schmieröl und Bienenwachs.

Genau wie damals, als Wilhelm noch da war.

Sie legt Erwin einen Zettel hin, BIN GLEICH WIEDER DA, und arbeitet von unten nach oben.

Das alte Gebiss fällt ihr in die Hände. Sie braucht es nicht mehr, fort damit.

Am Wochenende kommt ihre Tochter, bringt eine schnelle Umarmung hinter sich, stürzt sich auf den gelben Sack und fischt es heraus. In gemütlichem Badisch, aber ungemütlich fuhrwerkend weist sie sie zurecht. Erklärt ihr, dass das ganze Plastik aus dem Sack in einer Fabrik geschmolzen wird, danach werden viele schöne neue Plastiksachen daraus gemacht. 

Ob sie will, dass ein Schulkind auf dem Pausenhof unwissentlich aus einer Flasche trinkt, die ihre Zähne enthält? Sie will es nicht, Gott bewoar.

DIE GLOOBIRSCHT AA NED, Lore wühlt, wurschtelt und knistert weiter, rudert mit dem Arm in der Tüte herum und nimmt zum Glück einen früheren Zug. 

Es wird wieder still im Haus, nur Erwin und sie. Sie glaubt ihn behaglich an der Kondensmilch schlürfen zu hören , die sie ihm auf der Fensterbank bereitgestellt hat. Nur wenige Tröpfchen im Karamalzkorken, vorsichtshalber, damit ihm nichts zustößt. 

Um halb Elf bringt die junge Frau das Essen. Das arme Geschöpf kennt weder Kulenkampff noch Rosenthal, dafür steckt in ihrer Braue ein entsetzlicher Metallsplitter. Von einer Explosion wahrscheinlich, sie traut sich nicht zu fragen ob dabei noch andere zu Schaden gekommen sind. 

Nach dem Mittagsschlaf dauert es nicht mehr lange, dann wird es dunkel. Sie freut sich,

wenn der Himmel tiefblau den Tag in sich hinein schluckt, wieder ist einer überstanden.

Sie hat einen Pakt mit Erwin, den späten Frühling betreffend. 

Als sie einschläft, träumt sie davon mit ihm die Straße hinunterzugehen, durch die warme Luft, und irgendwo werden die anderen auf sie warten.