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Ausverkauft

Die Freundin der Vorgesetzten der Tante einer Cousine hat gesehen, dass ihr Lieblings-Drogeriemarkt schließt. Alle großen Lebensereignisse der vergangenen zwanzig Lebensjahre hatten zu Ankäufen in diesem Geschäft geführt, immer hatte sie alles gefunden, Schaumgetränke ausgenommen. Sie steht vor der Ladentür und blinzelt wehmütig. Dann sieht sie es, das Schild: 70% Ausverkaufsrabatt auf ALLES!

Die Trauer verfliegt im Nu.

Sie tritt ein.

Offenbar ist Vormittags einiges los gewesen, das Personal wirkt zerzaust, viele leere, teils schon abgeschlagene Regale. Nur im Kassenbereich noch eins, bis zur obersten Reihe mit Artikeln gefüllt.

Einige Frauen ganz unterschiedlichen Alters stehen wie zufällig davor, sie gesellt sich dazu, will zugreifen und federt zurück.

ACH SO.

Das Regal beherbergt Unaussprechliches in Pink- und Lilatönen, naturnah ausgeformt. Schnell tritt sie einen Schritt beiseite, nestelt an einem Aufsteller mit Ameisenködern und schielt so unauffällig wie möglich.

DIE ORGASMUS-SENSATION AUS DEN USA, entziffert sie mit schmerzenden Augäpfeln, VON 98% ALLER ANWENDERINNEN EMPFOHLEN!

Eine Einladung zu selbstbestimmter Weiblichkeit, hier, zwischen Mundziehöl und dekorativer Kosmetik, zum Sonderpreis: wie geil ist das denn?

Und wie schrecklich, denn das hier ist kein anonymer Einkaufstempel in Frankfurt.

Auch ihre Zahnärztin wühlt in den Ködern, und an der Kasse schwatzt Stadtrat Kulke im bodenlangen Lodenmantel. Unmöglich, sich einfach eine reduzierte Sensation in den Wagen zu werfen wie ein Bündel Bananen, noch unmöglicher, sie aufs Band zu legen und zu bezahlen, sie kann dem jungenhaften Kassierer schon seit der Hämorrhoidensalbe kaum in die Augen sehen.

Sie seufzt, die Welt ist so ungerecht.

Wie viele Männer machen keinerlei Hehl daraus, schon am Morgen unter der Dusche beherzt die Faust gegen den Stress des aufziehenden Tages zu schütteln?

Sollte nicht klar sein, dass die introvertierte weibliche Anatomie mehr verlangt als einen Klecks Duschgel und unbekümmerten Würgegriff?

Sollte der Erwerb von sachdienlichem Zubehör nicht das Normalste der Welt sein, wenn Männer schon so oft aushäusig sind und, als wäre das nicht ärgerlich genug, laut Statistik auch früher tot?

Sollte, sollte, Witwe Bolte.

Sie überschlägt ihre Möglichkeiten zur schamarmen Heimführung des Orgasmuswunders.

Viele Frauen scheinen das zu tun, während sie unbehaglich hier herumstehen wie in einem zugigen Bushäuschen. Sie versucht, in den unbewegten Gesichtern zu lesen. Welche Schlachten toben da im Verborgenen? Welche raffinierten Pläne nehmen Gestalt an?

Da kommt Bewegung in den kleinen Pulk.

Eine Angestellte im gelben Drogeriemarktkittel mit passendem Hütchen kollert eine Sackkarre vors Regal, ein riesiger Karton wird aufgeklappt. SO, DENN MAN FEIERABEND HIER, sie klatscht energisch, die Frauen weichen zurück.

Ein garantiert multipler Orgasmus nach dem anderen verschwindet auf Nimmerwiedersehen in der Kiste, bis das Regal leer ist. Durch ein kleines Meer aus langen Gesichtern schwankt und scheppert die schwer beladene Sackkarre nach draußen, wie zum Hohn wird der Alarm ausgelöst.

Die Angestellte hebt die Hand ohne sich umzudrehen, jemand schaut zerstreut auf, nickt und schaltet ab.

Am nächsten Tag steht es in der Zeitung.

DREISTER DIEBSTAHL IM AUSVERKAUF.

Eine offenbar als Befugte verkleidete Person hat sich die Unruhe der Ladenauflösung zunutze gemacht und einen ganzen Posten gestohlen, von Unterhaltungselektronik ist die Rede.

Zur Tatzeit im betreffenden Bereich befindliche Augenzeugen werden gebeten, sich zu melden.

Wer aber, um alles in der Welt, sollte dort etwas zu suchen gehabt haben?

Sie jedenfalls nicht.